Warum viele Unternehmen beim maschinellen Lernen versagen

Cassie Kozyrkov
6 min readJul 21, 2018

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Übersetzt von Christian Federkiel, Original von Cassie Kozyrkov

Ich möchte Ihnen ein Geheimnis verraten: Wenn Leute “maschinelles Lernen” sagen, klingt es, als ginge es hier nur um eine Disziplin. In Wahrheit aber gibt es zwei. Wenn Unternehmen den Unterschied nicht verstehen, könnte es unter Umständen sehr schwierig sein, erfolgreich ML-Projekte umzusetzen.

Zwei Aspekte maschinellen Lernens

Stellen Sie sich vor, Sie beauftragen einen Bäcker, um Ihnen einen Ofen zu bauen, oder einen Elektroingenieur, um Brot zu backen. Wenn es um maschinelles Lernen geht, ist genau das der Fehler, den Unternehmen oft machen.

Wenn Sie beispielsweise eine Bäckerei eröffnen möchten, ist es eine gute Idee, einen erfahrenen Bäcker zu beauftragen, der sich mit den Feinheiten der Herstellung von köstlichem Brot und Gebäck auskennt. Ziemlich sicher würden Sie auch einen Ofen benötigen. Obwohl das ein wichtiges Werkzeug ist, wette ich, dass Sie Ihren Top-Patissier nicht mit der Aufgabe betrauen würden, den Ofen zu bauen. Warum konzentrieren sich dann Unternehmen auf das Äquivalent, wenn es um maschinelles Lernen geht?

Stellt Ihr Unternehmen Brot her? Oder Öfen?

Dies sind verschiedene Unternehmen! Leider scheitern viele ML-Projekte, weil das Team nicht weiss, ob sie den Ofen, das Rezept oder das Brot entwickeln sollen.

Forschungsgebiet maschinelles Lernen

Die meisten Kurse und Lehrbücher zum Thema maschinelles Lernen bestehen darin, Öfen (und Mikrowellen, Mixer, Toaster, Kessel und die Küchenspüle!) von Grund auf neu entwickeln. Aber nicht, wie man Dinge kocht oder mit Rezepten Neues entwickeln kann.

Wenn Sie Algorithmen für maschinelles Lernen entwickeln, liegt ihr Schwerpunkt darauf, Allzweck-Werkzeuge zu entwickeln, die von anderen genutzt werden können (Küchengeräte, wenn Sie die obige Analogie bevorzugen). Dieses Gebiet heisst Machine Learning Research und wird in der Regel von der Wissenschaft oder Firmen wie z.B. Google durchgeführt.

Wenn es um maschinelles Lernen geht, sind viele Organisationen oft im falschen Geschäft.

Sie benötigen eine umfassende Ausbildung, um in diesem Bereich arbeiten zu können, denn sie hat eine lange Geschichte. Einige populäre Algorithmen gibt es seit Jahrhunderten. Zum Beispiel wurde die Methode der kleinsten Quadrate für die Regression im Jahre 1805 veröffentlicht. Glauben Sie mir, die Menschheit hat in 200 Jahren einen weiten Weg zurückgelegt.

Heutzutage gibt es ziemlich viele ausgeklügelte Geräte und Apparate. Wie werden Sie je eine bessere Mikrowelle bauen, wenn Sie nicht verstehen, wie die jetzige funktioniert? Natürlich wird ein umfassendes Studium benötigt! Ein Forscher zu werden braucht Jahre. Und es gibt einen guten Grund, dass der Grundlagenkurs mit der Infinitesimalrechnung beginnt.

Angewandtes maschinelle Lernen

Die meisten Unternehmen wollen nur kochen — um ihre geschäftlichen Probleme zu lösen. Sie haben keinerlei Interesse daran, Mikrowellen zu bauen. Dennoch machen sie oft den Fehler zu versuchen, diese Geräte von Grund auf neu zu entwickeln. Es ist schwer, ihnen die Schuld zu geben — der aktuelle Hype und Bildungszyklus konzentriert sich nämlich hauptsächlich auf Forschung statt auf Anwendung.

Erfinden Sie das Rad nicht neu, wenn Sie innovative Rezepte hervorbringen möchten. Die Mikrowellen existieren bereits. Sie können sie von vielen Orten kostenlos bekommen. Und wenn das Einrichten einer eigenen Küche eine lästige Pflicht ist, können Sie bestehende Plattformen wie z.B. die Google Cloud Platform verwenden, einschliesslich der Geräte, Zutaten und Rezeptbücher.

Erfinden Sie das Rad nicht neu, um in der Küche innovativ zu sein!

Für die meisten Anwendungen muss Ihr Team die Mathematik der Rückpropagation in neuronale Netzen nicht verstehen, genauso wenig wie ein Koch den Schaltplan für eine Mikrowelle kennen muss. Aber es gibt eine Menge, was Sie wissen müssen, um eine industrielle Küche zu leiten — alles von den Zutaten bis zur Überprüfung der Gerichte, bevor diese serviert werden.

Welche dieser Dinge möchten Sie verkaufen? Abhängig von der Antwort, müssen Sie das richtige Team einstellen.

Abstürzen und verbrennen mit maschinellem Lernen

Leider sehe ich, dass viele Unternehmen keinen Nutzen aus maschinellem Lernen ziehen, weil sie nicht erkennen, dass die angewandte Seite eine ganz andere Disziplin ist als die Seite der Algorithmenforschung. Stattdessen versuchen sie ihre Küchen aufzubauen, indem sie diejenigen Leute einstellen, die ihr ganzes Leben lang Mikrowellen-Teile gebaut haben, aber niemals etwas gekocht haben. Wenn das Kochen trotzdem gelingt, liegt es vielleicht daran, dass Sie Glück hatten und versehentlich einen Ingenieur eingestellt haben, der auch ein grossartiger Koch ist.

Aber meistens hat man nicht so viel Glück. Die Anzahl der Stunden innerhalb eines Lebens sind nunmal begrenzt. Und wenn Sie sie damit verbrauchen zu lernen, wie eine Mikrowelle verkabelt ist, haben Sie weniger Zeit zur Verfügung, um die Kunst der Konditorei zu erlernen. Wo und wann hätte Ihr promovierter Forscher für künstliche Intelligenz die Fähigkeiten erworben, die für das angewandte maschinelle Lernen erforderlich sind? Wenn Sie also auf jemanden setzen, der ein Experte in beiden Disziplinen ist, wundern Sie sich nicht über den Fachkräftemangel!

Wenn Sie versuchen, ein Restaurant zu gründen, indem Sie Leute einstellen, die ihr ganzes Leben lang Mikrowellenteile entwickelt, aber noch nie etwas gekocht haben… was kann schon schief gehen?

Wen sollten Sie stattdessen einstellen? Genau wie in einer Grossküche brauchen Sie ein interdisziplinäres Team mit einer Führungsmannschaft, die diesen Bereich versteht. Sonst verpuffen Projekte und gehen nirgendwohin.

Das richtige Team einstellen

Wenn Sie hochmoderne Apparate verkaufen, stellen Sie Forscher ein. Wenn Sie mit Rezepten innovativ sein wollen, um Essen in grossem Umfang zu verkaufen, brauchen Sie Menschen, die herausfinden, was sich lohnt zu kochen bzw. was die Ziele sind (Entscheider und Produktmanager). Stellen Sie Menschen ein, die Lieferanten und Kunden verstehen (Fachspezialisten und Sozialwissenschaftler), und solche, die Zutaten in grossem Massstab verarbeiten können (Data Engineers und Analytiker). Sie brauchen Mitarbeiter, die schnell verschiedene Zutaten-Geräte-Kombinationen ausprobieren können, um potentielle Rezepte zu generieren (applied ML Engineers) und Leute, die überprüfen können, ob die Qualität des Rezepts gut genug ist (Statistiker). Suchen Sie ferner nach Menschen, die ein potentielles Rezept in Millionen von Speisen effizient umsetzen (Software-Ingenieure), und solche die das interdisziplinäre Team auf Kurs halten (Projekt-/Programm-Manager). Wählen Sie Menschen aus, die dafür sorgen, dass Ihre Gerichte auch dann erstklassig bleiben, wenn der Lieferwagen statt des von Ihnen bestellten Reises eine Tonne Kartoffeln bringt (Reliability Engineers).

Es ist durchaus möglich, dass verschiedene Rollen von ein und derselben Person übernommen werden. Unabdingbar ist allerdings, dass jede Rolle irgendwie abgedeckt ist. Und bevor Sie gleich Ihre verdorbene Tomate wegen einer solchen unvollständigen Darstellung auf mich werfen, gebe ich gerne zu, dass es zum Thema angewandtes maschinelles Lernen viel mehr zu sagen gibt. Lassen Sie uns das aber auf einen zukünftigen Beitrag auslagern.

Apropos Outsourcing: Wenn Ihr Team alle vorhandenen Werkzeuge ausprobiert hat, aber kein Rezept passend auf Ihre Geschäftsziele finden konnte, ist es vielleicht sinnvoll, einen Experten beizuziehen, der sich mit der Entwicklung von Geräten auskennt (Forscher). Ob Sie diese Person einstellen oder die Aufgabe an eine erfahrene Forschungsfirma auslagern, hängt vom Umfang und Fortschritt Ihres Vorhabens ab.

Ein weiterer Grund, sich mit Forschern in Verbindung zu setzen, wäre folgender: Ihr Prototyp ist so erfolgreich, dass die Verwendung von massgeschneiderten Geräten in grossem Umfang sinnvoll ist (das wäre dann aber auch eher ein Luxusproblem!).

Entscheidungsintelligenz

Experten sollten eigentlich darüber berichten, aber sie tun es nicht. Sie sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass es in Wirklichkeit zwei Disziplinen gibt. Und so liegt der Fokus in der Ausbildung auf der Entwicklung von Algorithmen, nicht aber auf deren Anwendung.

Mein Team arbeitet daran, das zu ändern. Wir haben eine neue Disziplin geschaffen, um die angewandte Seite abzudecken, und haben bereits über 15.000 Mitarbeiter darin ausgebildet. Wir nennen es die Entscheidungsintelligenz, und es umfasst alle angewandten Aspekte des maschinellen Lernens und Data Science.

Um es anders auszudrücken: Wenn der Forschungsbereich des maschinellen Lernens Mikrowellen entwickelt und angewandtes maschinelles Lernen Mikrowellen verwendet, verwendet die Entscheidungsintelligenz Mikrowellen, um Ihre Ziele zu erreichen — und wechselt das Gerät, wenn Sie keine Mikrowelle brauchen.

Viel Erfolg und viel Spass!

Wenn es um angewandtes maschinelles Lernen geht, müssen Sie wissen, was Sie kochen möchten, und wie Sie es kontrollieren, bevor Sie es Ihren Kunden servieren. Jener Teil ist eigentlich gar nicht so schwer — es ist nur wichtig, ihn nicht zu vergessen.

Im übrigen ist das Lösen von Geschäftsproblemen mit maschinellem Lernen viel einfacher, als die meisten Leute denken. Diese glänzenden, hochmodernen Küchen warten nur darauf, von Ihnen verwendet zu werden. Tauchen Sie ein, wie Sie es in einer echten Küche tun würden. Fangen Sie an zu experimentieren und auszuprobieren! Immer wenn ich jemanden treffe, der glaubt, dass er einen ganzen Kurs zur Entwicklung von Algorithmen für das maschinelle Lernen braucht — oder vielleicht ein ganzes Studium -, kann ich nicht anders als mir vorzustellen, dass sich diese Person so lange weigert, Mikrowellen zu verwenden, bis sie selbst eine entwickelt hat. Fallen Sie nicht auf die Lüge herein, die besagt, dass sie einen Doktortitel brauchen, um erstaunliche Dinge mit maschinellem Lernen zu tun. Was Sie wirklich brauchen, ist ein bisschen menschliche Kreativität. Viel Erfolg und viel Spass!

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Cassie Kozyrkov
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Written by Cassie Kozyrkov

Head of Decision Intelligence, Google. Hello (multilingual) world! This account is for translated versions of my English language articles. twitter.com/quaesita

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